Rechter Terror in Halle und Judenhetze in der Corona-Krise: Neue antisemitische Welle seit 2019
Jüdisches Leben ist in Deutschland immer noch keine Normalität. Synagogen und jüdische Kindergärten werden von Sicherheitskräften und Kameras bewacht; viele gläubige Jüdinnen und Juden trauen sich nicht, in der Öffentlichkeit religiöse Symbole zu tragen. Wie in den Jahrzehnten zuvor werden auch weiterhin jüdische Friedhöfe geschändet.1 Der Antisemitismus ist auch siebzig Jahre nach dem Holocaust nicht ausgerottet. Im Jahr 2019 registrierte die Polizei 1.839 antisemitische Delikte in Deutschland2, im Folgejahr 2020 waren es bereits 2.275. Derart hohe Zahlen gab es zuletzt vor knapp zwanzig Jahren. Die TäterInnen sind laut polizeilicher Statistik zumeist extrem Rechte.3
ANTISEMITISCHER TERROR MIT ZWEI TODESOPFERN IN HALLE: EIN NEONAZI WOLLTE MEHR ALS FÜNFZIG MENSCHEN IN DER SYNAGOGE ERMORDEN
Ein trauriger Höhepunkt antisemitischer Gewalt ereignete sich im Herbst 2019 in Halle an der Saale. Ein deutscher Neonazi versuchte an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in die Synagoge einzudringen und die dort versammelten Menschen zu ermorden. Als er an der stabilen Synagogentür scheiterte, erschoss er eine zufällig vorbeilaufende nichtjüdische Frau auf der Straße und einen ebenfalls nichtjüdischen Mann in einem Döner-Imbiss. Der mittlerweile zu lebenslanger Haft verurteilte Täter4 hatte vor dem Attentat im Internet verkündet, dass er sowohl Juden als auch Muslime töten würde; in einem Pamphlet fabulierte er von „ZOG“. Dieser Code aus der Neonaziszene steht für „Zionist Occupied Government“ und soll die althergebrachte Lüge transportieren, dass die Regierungen von Juden gesteuert werden.5 Der neonazistische Mörder von Halle glaubte an Verschwörungserzählungen, die auch in der “Coronaleugner”-Szene verbreitet sind.
CORONA-KRISE: ZUSPITZUNG ANTISEMITISCHER HETZE
Dass antisemitische Vorurteile vor allem in Krisenzeiten Hochkonjunktur haben, zeigte sich in Deutschland seit dem Frühjahr 2020 insbesondere bei den bundesweiten Protesten der „Querdenker“- und „Corona-Rebellen“-Szene. Bundesweit und auch in Bayern wurden auf deren Kundgebungen und im Internet falsche Parallelen zwischen Gegenwart und Nazizeit gezogen, aber auch althergebrachte antisemitische Ritualmordlegenden und Weltverschwörungsideologien verbreitet. Von neonazistischen und sonstigen extrem rechten Akteuren grenzte man sich meist nicht ab. Viele in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden befürchten, erneut zu Sündenböcken für eine gesellschaftliche Krise gemacht zu werden. Im Folgenden einige Beispiele für den aktuell wieder grassierenden militanten Antisemitismus.
QANON: ANTISEMITISCHER VERSCHWÖRUNGSMYTHOS, VERBREITET BEI RECHTSTERRORISTEN UND IN DER „QUERDENKER“-SZENE
Wie der rassistische Attentäter von Hanau haben sich in den letzten Jahren weltweit mehrere Rechtsterroristen positiv auf den antisemitischen QAnon-Mythos6 bezogen. Auch in Bayern wurden auf den Kundgebungen von „Corona-Rebellen“ und „Querdenkern“ zahlreiche Menschen gesehen, die T-Shirts oder andere Kleidungsstücke mit der Aufschrift „Q“ trugen, ein Symbol für den QAnon-Mythos. Die QAnon-Verschwörungslegende verbreitete sich auch im Internet schnell. Die Lügengeschichten um QAnon gehen davon aus, dass Kinder in unterirdischen Lagern gefoltert und sexuell missbraucht würden. Dies alles sei ein Plan eines „tiefen Staates“ („deep state“), in dem auch der US-Amerikaner George Soros eine Rolle spielen würden. Als Retter und Befreier der angeblich gefolterten Kinder wird ausgerechnet der ehemalige US-Präsident Donald Trump präsentiert. Als Medium zwischen den „QAnons“, den anonymen AnhängerInnen des Kults, und Trump fungiere die Person „Q“, die im Internet regelmäßig Nachrichten hinterlasse.7 Auch in Bayern schenkten erschreckend viele Menschen derartigen Narrativen Glauben. Solche Erzählungen sind tatsächlich sexuell missbrauchten Kindern im Übrigen keine Hilfe. Warum ist die QAnon-Erzählung antisemitisch? Ganz einfach: Weil behauptet wird, dass jüdische oder als jüdisch markierte Menschen Kinder foltern würden, um in den Besitz eines angeblich verjüngenden Stoffes namens „Adrenochrom“ zu kommen.8 Der QAnon-Mythos erinnert an die antisemitischen Ritualmordlegenden, die in Europa bereits im Mittelalter verbreitet wurden und die zu zahlreichen blutigen Pogromen gegen Jüdinnen und Juden führten. In diesen Lügengeschichten wurde unter anderem behauptet, Juden würden christliche Kinder töten und ihr Blut verzehren. Heute würde man solche Geschichten Fake News nennen, doch diesen Begriff gab es vor einigen hundert Jahren noch nicht. Als die Pest wütete, suchte man Schuldige für die schreckliche Epidemie, durch die ein Drittel der Einwohner Europas ihr Leben verlor. Damals unterstellte man den Jüdinnen und Juden beispielsweise, Brunnen vergiftet und so die tödliche Krankheit ausgelöst zu haben.9 Heute wird jüdischen Menschen unterstellt, eine ominöse „Neue Weltordnung“ (NWO, New World Order) erschaffen und das Corona-Virus in die Welt gesetzt zu haben.10 So behauptete ein Redner der fränkischen Corona-Rebellen-Gruppe „Widerstand 100“ in seiner Rede am 12. Juli 2020, „Mr. Soros“, also ein Jude, habe das Corona-Virus erschaffen.11 Obwohl es zahlreiche wohlhabende Menschen gibt und die Einkommensunterschiede in vielen Gesellschaften immer weiter auseinanderdriften, hörte man seinen Namen bei den selbst ernannten Querdenkern und Corona-Rebellen ausnehmend oft. So soll der Mann Mitte der 2010er Jahre die Fluchtbewegung aus den arabischen Ländern nach Europa organisiert haben.12 Und wie oben beschrieben, sei er auch für die Existenz des neuen Coronavirus verantwortlich.13 Beweise für diese Behauptungen gibt es keine.
SEKUNDÄRER ANTISEMITISMUS DURCH FALSCHE GLEICHSETZUNGEN MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS
Absurd ist, dass auf vielen „Querdenker“-Kundgebungen in Deutschland die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus SARS-CoV-2 mit dem Staatsterror der nationalsozialistischen Zeit verglichen wurden. Manche DemonstrantInnen hefteten sich gar „Judensterne“ an die Brust und setzen das „Infektionsschutzgesetz“ mit dem „Ermächtigungsgesetz“ 1933 gleich, durch das Adolf Hitler und die mit ihm verbündeten gesellschaftlichen Gruppen seinerzeit legal an die Macht kamen. Solche Gleichsetzungen stellen eine extreme Verharmlosung der NS-Zeit und damit auch des nationalsozialistischen Terrors gegen Jüdinnen und Juden dar und sind eine Form des „sekundären“ Antisemitismus.16
Der Kampf gegen Antisemitismus hat in Deutschland eine besondere Bedeutung: Nirgendwo auf der Welt gab es einen derartigen Zivilisationsbruch, wie ihn der Holocaust an den europäischen Jüdinnen und Juden darstellte. Jede Gleichsetzung mit einem anderen Unrecht auf dieser Welt bedeutet daher eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Der erneut grassierende Rechtsterrorismus sowie die rechtsoffenen „Querdenker“ und „Corona-Rebellen“ befeuern erneut antisemitische Hetze und stellen eine Bedrohung für jüdische Menschen dar. Antisemitismus hat natürlich weitere Facetten, die hier nicht alle aufgezeigt werden können, unter anderem den antisemitischen Terror und die antisemitische Propaganda verschiedener islamistischer Strömungen. Tatsache ist jedoch, dass in Deutschland antisemitische Delikte fast ausschließlich der rechten und rechtsoffenen Szene zuzuordnen sind. Es ist unklar, ob das Thema Antisemitismus in diesem Land ernst genug genommen wird. Einerseits wurden staatlicherseits Monitoring-Stellen installiert17, andererseits hat man immer wieder den Eindruck, dass gegen extrem rechte, antisemitische Strömungen nur mit angezogener Handbremse vorgegangen wird.